Unfallversicherung: Wonach richtet sich der Invaliditätsgrad?

Was ist passiert?

Dem zugunsten des Versicherten abgeschlossenen Unfallversicherungsvertrages liegen die „Allgemeinen Bedingungen für den Premium-Unfallschutz“ (AUVB 2006) zugrunde. Diese lauten auszugsweise wie folgt:

»G Was versteht man unter dauernder Invalidität? Wie wird der Invaliditätsgrad bemessen?

[…] 3. […]. Bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten zur Bemessung des Invaliditätsgrads ausschließlich, soweit nichts anderes vereinbart ist, die folgenden Bewertungsgrundlagen (Gliedertaxe):

[…]

eines Armes … 70 %

[…]

Für andere Körperteile und Sinnesorgane bemisst sich der Invaliditätsgrad danach, inwieweit die normale körperliche oder geistige Funktionsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist. Dabei sind ausschließliche medizinische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. […]«

Der Versicherte zog sich bei einem Sturz einen Mehrfragmentverrenkungsbruch des rechten Oberarmkopfes zu. Die eingesetzte Delta-Reverse-Prothese wurde nach Auftreten einer Infektion entfernt und durch einen Spacer ersetzt. Der Versicherte litt an einer Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenks. Diese Bewegungseinschränkung bewirkte ausschließlich eine (teilweise) Funktionsunfähigkeit bzw. Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes. So war die Innen- und Außenrotationsbewegung im Wesentlichen aufgehoben, ein Nacken- und Kreuzgriff nicht mehr durchführbar und die Muskulatur des rechten Armes verschmächtigt. Eine darüber hinausgehende selbständige Gebrauchsminderung der Schulter bzw. anderer Komponenten der Schulter lag hingegen nicht vor.

Fraglich war im vorliegenden Fall, ob die Verletzung bzw. Bewegungseinschränkung des Schultergelenks vom (70%igen) Armwert im Sinne der Gliedertaxe erfasst ist, oder der Invaliditätsgrad anhand eines „anderen Körperteils“ im Sinne der AUVB 2006 zu bemessen ist.

Wie ist die Rechtslage?

In seiner Entscheidung vom 30.08.2023 (7 Ob 124/23w) führte der Oberste Gerichtshof (OGH) zunächst aus, dass die dauernde Invalidität der gänzliche oder teilweise Verlust von Körperteilen oder Organen und/oder die Einschränkung der körperlichen, organischen oder geistigen Funktions- oder Gebrauchsfähigkeit ist. Dabei seien die in der Gliedertaxe – für die einzelnen Körperteile – angeführten Prozentangaben heranzuziehen.

Bei nicht in der Gliedertaxe genannten „anderen“ Körperteilen und Sinnesorganen bemisst sich der Invaliditätsgrad nach Ansicht des OGH danach, inwieweit die normale körperliche oder geistige Funktions- und Gebrauchsunfähigkeit nach ausschließlich medizinischen Gesichtspunkten beeinträchtigt ist.

In der Unfallversicherung habe damit die Beurteilung des Vorliegens und des Grades einer dauernden Invalidität bezogen auf einzelne Körperteile, bzw. Sinnesorgane oder einer (nach medizinischen Gesichtspunkten) spezifischen Funktionsunfähigkeit zu erfolgen. Bei der Funktionsbeeinträchtigung kommt es dabei nach Ansicht des OGH nicht auf den Sitz der Verletzung an, sondern darauf, wo bzw. auf welchen Körperteil sich die Verletzung auswirkt.

Der OGH kam daher im vorliegenden Fall zum Ergebnis, dass die Bemessung der dauernden Invalidität anhand des 70%igen Armwerts zu erfolgen hat, da sich das betroffene Schultergelenk ausschließlich auf die Gebrauchsfähigkeit des rechten Arms ausgewirkt hat.

Schlussfolgerung

Dazu Rechtsanwalt Dr. Roland Weinrauch:

»Bei der Unfallversicherung richtet sich die dauernde Invalidität nicht nach dem verletzten Körperteil, sondern danach, auf welches Körperteil sich die Funktionsunfähigkeit konkret auswirkt.«