Unfall trotz geplanten Bewegungsablaufs?

Was ist passiert?

Zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer bestand ein Unfallversicherungsvertrag. Die zugrunde liegenden Versicherungsbedingungen lauteten auszugsweise wie folgt:

»Was ist ein Unfall? – Artikel 6

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

2. Als Unfall gelten auch folgende Ereignisse:

Verrenkungen von Gliedern sowie Zerrungen und Zerreißungen von an Gliedmaßen und an der Wirbelsäule befindlichen Muskeln, Sehnen, Bändern und Kapseln sowie Meniskusverletzungen.

[…]«

Am 05.08.2020 nahm der Versicherungsnehmer, ein Polizeibeamter, an einem Auswahlverfahren der Cobra teil. Dabei hatte er unter anderem eine von der Wand ausgeklappte Sprossenwand mit einer Höhe von ca. 3 m zu bewältigen. Nachdem er den Scheitelpunkt der Sprossenwand überwand, sprang er direkt auf den Boden. Er landete dabei mit dem linken Fuß, der den Hauptanteil des Körpergewichts bzw. des Fallgewichts seines Körpers übernahm, um dann nach Bodenkontakt mit dem rechten Fuß sofort in eine Drehbewegung nach rechts starten zu können. Der gesamte Bewegungsablauf war von ihm genau so geplant.

Dennoch erlitt er dabei eine vordere Kreuzbandruptur links, ein ausgedehntes Knochenmarksödem im Bereich der inneren Oberschenkelrolle bzw. des Schienbeinkopfes und eine Überdehnung des Innenseitenbandes.

Unter Berücksichtigung der durch Vorverletzungen bestehenden Vorinvalidität verblieb beim Versicherungsnehmer eine dauernde Invalidität von 6 %. Der Versicherer lehnte jedoch eine Leistung mit der Begründung ab, dass es sich beim Geschehensablauf um keinen Unfall gehandelt habe. Dem Unfallbegriff sei immanent, dass der Bewegungsablauf im Zuge des Unfalls unbeherrschbar werde. Ein Ereignis von außen habe nicht auf den Körper eingewirkt.

Wie ist die Rechtslage?

In seiner Entscheidung vom 25.01.2023 (7 Ob 212/22k) führte der Oberste Gerichtshof (OGH) zunächst aus, dass Art 6.1 der gegenständlichen Versicherungsbedingungen den allgemeinen Unfallbegriff definiert. Demnach handle es sich bei einem Unfall um ein plötzlich von außen auf den Körper der versicherten Person einwirkendes Ereignis, wodurch diese unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Ein von außen auf den Körper wirkendes Ereignis liege vor, wenn Kräfte auf den Körper einwirken, die außerhalb des Einflussbereichs des eigenen Körpers liegen. Für den Versicherten müsse die Lage so sein, dass er sich bei normalem Geschehensablauf den Folgen des Ereignisses (Krafteinwirkung auf den Körper) im Augenblick ihres Einwirkens auf seine Person nicht mehr entziehen kann.

Der OGH führte jedoch weiters aus, dass in Art 6.2 der gegenständlichen Versicherungsbedingungen eine Reihe weiterer Umstände umschrieben werden, welche auch als „Unfall“ gelten. Demnach gelten nach Art 6.2 Zerrungen und Zerreißungen von an Gliedmaßen und an der Wirbelsäule befindlichen Muskeln, Sehnen, Bändern und Kapseln sowie Meniskusverletzungen als Unfall. Art 6.2 („als Unfall gelten auch“) könne nach Ansicht des OGH nur so verstanden werden, dass damit Umstände dem Unfallbegriff gleichgestellt werden (Unfallsfiktion), die sich vom eigentlichen Unfall nach Art 6.1 unterscheiden. Sofern daher die in Art 6.2 genannten körperlichen Verletzungen vorliegen, bestehe Versicherungsschutz ohne Hinzutreten der in Art 6.1 geforderten weiteren Voraussetzungen.

Dies gelte umso mehr, da sich der Versicherer – anders als andere Versicherungsunternehmen in Österreich – gerade nicht für eine Klausel entschieden habe, wonach Sehnen-, Muskel- und Bänderrisse (nur) „infolge von Abweichungen vom geplanten und gewollten Bewegungsablauf“ als Unfälle gelten.

Der OGH kam daher zum Ergebnis, dass der Versicherungsnehmer durch den vorliegenden Unfall vom 05.08.2020 eine in Art 6.2 der gegenständlichen Versicherungsbedingungen beschriebene Verletzung erlitten hat, weshalb vom Eintritt eines Unfalls auszugehen ist, sodass der Versicherer aufgrund dauernder Invalidität zur Leistung verpflichtet ist.

Schlussfolgerung

Dazu Rechtsanwalt Dr. Roland Weinrauch:

»Art 6.2 des gegenständlichen Bedingungswerkes ist unabhängig von Art 6.1 zu lesen. Der Unfallbegriff nach Art 6.2 erfordert daher kein „plötzliches“ Unfallereignis im Sinn von Unkontrollierbarkeit, mit welchem eine unfreiwillige Gesundheitsschädigung einhergeht. Auf Basis der vorliegenden Klausel kann daher auch eine geplante und kontrollierte Bewegungsabfolge ein versichertes Unfallereignis darstellen, sofern es dabei zu einer der genannten Verletzungen kommt.«