Was ist passiert?
Der Kläger (Versicherungsnehmer) hat mit der Beklagten (Versicherung) einen Unfallversicherungsvertrag abgeschlossen, dem die Allgemeinen Bedingungen für den Premium-Unfallschutz (AUVB 2012) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:
Der Kläger erlitt am 17.12.2016 einen Unfall. Ausgehend von einem durch einen medizinischen Sachverständigen bewerteten Invaliditätsgrad von 15 % zum Stichtag 17.12.2017 erbrachte die Beklagte Leistungen aus der Versicherungspolizze an den Kläger. Gegen diese (Erst-)Bemessung brachte der Kläger eine Klage ein, mit welcher er Versicherungsleistungen auf Basis eines Invaliditätsgrades von 25 % begehrte. Der vom Gericht bestellte Sachverständige kam zum Ergebnis, dass der Invaliditätsgrad zum Zeitpunkt 17.12.2017 tatsächlich 25 % betrug.
Dadurch hat sich naturgemäß die Lage des Versicherungsnehmers erheblich verbessert. Aus diesem Grund stellte der Versicherer noch während des laufenden Prozesses und innerhalb der Vier-Jahres-Frist (im Juli 2020) einen Antrag auf Neubemessung der Invalidität gemäß Art 7.7. AUVB 2012. Über diesen Antrag kam der gerichtliche Sachverständige, ebenfalls innerhalb der Vier-Jahres-Frist, zu einem (nunmehrigen) Invaliditätsgrad von 15 %, weil sich der Gesundheitszustand des Klägers seit dem 17.12.2017 deutlich verbessert habe. Fraglich war nunmehr, welches vom Sachverständigen ermittelte Ergebnis für den Prozess heranzuziehen ist
Wie ist die Rechtslage?
Art 7.7. AUVB 2012 enthält eine Ausschlussfrist. Wird die Antragstellung auf Neubemessung innerhalb von vier Jahren ab dem Unfalltag versäumt, bleibt es bei der bisherigen Bemessung des Invaliditätsgrads. Ein allenfalls von der Erstbemessung abweichender Invaliditätsgrad ist nur dann zu bemessen und zu berücksichtigen, wenn dies bis zu vier Jahre ab dem Unfalltag vom Versicherten oder vom Versicherer begehrt wird.
Der Zweck der Regelung liegt in der möglichst raschen Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden. Beide Parteien – Versicherungsnehmer und Versicherer – sollen innerhalb eines überblickbaren Zeitraums Klarheit über den Grad der Invalidität erlangen können, um letztlich Beweisschwierigkeiten zu vermeiden und eine alsbaldige Klärung der Ansprüche herbeizuführen. Die durch Setzung der Ausschlussfrist vorgenommene Risikobegrenzung soll also im Versicherungsrecht eine Ab- und Ausgrenzung schwer aufklärbarer und unübersehbarer (Spät-)Schäden herbeiführen. Maßgeblich ist der Invaliditätsgrad bis maximal zum Ablauf der Vier-Jahres-Frist.
Die Neubemessung der Invalidität innerhalb der vereinbarten Frist setzt voraus, dass die dauernde Invalidität bereits grundsätzlich feststand, ärztlich bemessen wurde und der Versicherer dazu eine entsprechende Erklärung abgegeben hat. Ein Antrag auf Vornahme der Neubemessung muss vom Versicherer jedenfalls so rechtzeitig gestellt werden, dass die ärztliche Untersuchung nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge noch vor Ablauf der Frist möglich ist.
Im vorliegenden Fall führte der Oberste Gerichtshof (OGH, 24.11.2021, 7 Ob 168/21p) aus, dass – wenn der Versicherungsnehmer gegen den Versicherer vor Ablauf der Frist für die Neubemessung Klage erhebt – die Parteien typischerweise davon ausgehen, dass der Streit in dem vor Fristablauf eingeleiteten Prozess insgesamt, das heißt einschließlich etwaiger weiterer Invaliditätsfeststellungen, ausgetragen werden soll, ohne dass es einer Neufeststellung bedarf. Dabei ist der Invaliditätsgrad bis maximal zum Ablauf der Frist maßgebend.
Schlussfolgerung
Dazu Rechtsanwalt Dr. Roland Weinrauch:
»Da der Kläger vor Ablauf der Vier-Jahres-Frist Klage erhoben hat und die Beklagte den Neubemessungsantrag innerhalb der Frist gestellt und auch die ärztliche Untersuchung vor Fristablauf stattgefunden hat, ist der Streit über das Ausmaß der Invalidität vor dem Hintergrund einer allfälligen Neubemessung gesamtheitlich im Verfahren zu erledigen.«